Das Püppi, das Buch und der Clownwecker mit den großen Augen

Wir freuen uns den ersten Text eines „Feuergriffel“-Schreiblehrlings veröffentlichen zu dürfen.

„Autsch!“, beschwerte sich Püppi. „Du kannst doch nicht mit deinem harten Rücken mir voll auf die weiche Nase fallen!“

„’tschuldigung“, brummte das Buch, „war nicht meine Absicht. Ich konnte meine Flugbahn nicht ändern. Ich wurde so grob geworfen.“

„Du auch?“, wunderte sich Püppi. „Mich haben auch ganz große Hände ganz hart gepackt. Hier! Mitten um meinen Körper. Ich war ganz zusammengedrückt! Ich bin es immer noch! Mir tut jetzt noch alles weh! Und dann fällst du mir auch noch mitten ins Gesicht, voll auf meine weiche Nase… Ich verstehe das nicht. Jeden Tag wurde ich geknuddelt und gestreichelt von so lieben kleinen weichen warmen Händen. Und dann? Und dann? Wurde ich einfach in eine Ecke gelegt! Und dort habe ich dann gelegen, Tag um Tag um Tag. Ich kann sie gar nicht zählen, soooo viele Tage.Und ich wurde nicht mehr geknuddlet. Niemand hat mich mehr in die Hand genommen. Mein kleines Herz hat ganz geweint. Und jeden Tag habe ich geträumt von meinen lieben kleinen weichen warmen Händen. Dass sie wiederkommen. Und dann kamen endlich wieder Hände. Aber sie waren groß und grob und haben mich ganz hart gepackt und hier hin geworfen … in diese … Tüte? – Ach, was hat das zu bedeuten? – Kannst du mir das erlären?“

„Püppi“, brummte das Buch, „du weißt doch: Ich stehe immer mit dem Rücken zum Zimmer. Ich habe Nichts gesehen. Aber mir ist es ähnlich gegangen wie dir. Seite um Seite wurde ich geblättert, Wort für Wort, Zeile für Zeile wurde ich mit dem Finger gestreichelt. Alle meine Geheimnisse habe ich so preisgegeben und geteilt. Dann wurde ich weggestellt, eingeklemmt zwischen anderen Büchern und nicht mehr beachtet. Sieh nur! Mein oberer Schnitt: ganz grau und staubig ist er geworden. So geht man doch nicht mit mir um!“, endete das Buch entrüstet und vorwurfsvoll seine Rede.

„Ach, sieh mal!“, rief das Püppi. „Da drüben ist der Clownwecker mit den großen Augen. Der muss doch bestimmt was wissen. Hey! Clownwecker! Weißt du was los ist?“

Doch der Clownwecker schwieg.

„Clownwecker, Clownwecker, wach auf! Sprich mit uns!“

Doch der Clownwecker schwieg.

„Wo ist der Clownwecker?“, wollte das Buch wissen. „Ich kann ihn nicht sehen.“

„Direkt hinter dir“, antwortete Püppi sofort. „Mit deiner Ecke links hinten bist du ganz nahe an seinen Augen!“

„Links hinten?“, fragte das Buch. „Das ist gut. Wenn ich meinen Schwerpunkt ein bisschen verlagere, könnte ich vielleicht zum Clownwecker rüber rutschen.“

„Ja! Ja! Ja!“, rief das Püppi ganz aufgeregt, „Mach das, du schaffst das!“ Und während das Buch sich anstrengte, brummte und seinen Schwerpunkt verlagerte, feuerte Püppi das Buch an: „Komm schon, komm schon, noch ein bisschen, gib dir Mühe! Ja, du schaffst das! Ja! Ja! Ja! Du rutschst, du rutschst! Ha!!! Getroffen!“ Püppi jubelte: „Hurra! Voll ins Auge!“

„Auch das noch!“, schnarrte der Clownwecker mit den großen Augen, „Mir bleibt auch Nichts erspart. Hey Buch! Hast du den Verstand verloren? Was denkst du dir?“

„’tschuldigung“, brummte das Buch, „war nicht meine Absicht. Ich habe links hinten doch keine Augen! Aber du, Clownwecker, hast doch so große. Püppi und ich, musst du wissen, wir haben uns gefragt – du stehst doch mit dem Gesicht zum Zimmer und kannst alles überblicken. Kannst du uns erzählen, was wir nicht gesehen haben?“

„Ich stehe nicht, ich stand“, korrigierte der Clownwecker mit den großen Augen. „Und jetzt lieg ich hier mit euch in diesem Sack. Soviel muss doch auch dir klar sein, liebes Buch. Zudem piekst du mir mit deiner Ecke noch immer ins Auge!“

„tschuldigung“, brummte das Buch, „aber ich kann nicht mehr zurück.“

„Naja, ist ja jetzt auch egal“, schnarrte der Wecker, „es hat sich eh bald ausgetickt.“

„Erzähl schon“, rief Püppi, „Was hast du gesehen? Was hast du gesehen?“

„Was habe ich gesehen? Tick-tick-tick-tick-tick in der Zeit zurück. Vor vielen vollen ungezählten Umläufen legte sich unser Mädchen ins Bett – und stand nicht mehr auf. Mutter kam und ging, doch unser Mädchen stand nicht auf. Vater kam und ging, doch unser Mädchen stand nicht auf. Andere Leute kamen und gingen, doch unser Mädchen stand nicht auf. Dann kamen Leute, mit weißen Hosen und Jacken in orange, sie kamen, legten unser Mädchen auf ein anderes Bett, gingen und nahmen unser Mädchen mit. Mutter kam und ging wieder. Vater kam und ging wieder. Unser Mädchen kam nicht wieder. Die Zeit ging und stand still zugleich. Und jetzt gehen wir.“

„Wohin?“, wollte Püppi wissen, „Wohin gehen wir?“

„Auf unsere letzte Reise, liebes Püppi“, antwortete der Clownwecker mit den großen Augen. „Wir gehen dahin, wo auch unser Mädchen ist.“

„Aber das ist doch schön!“, jubelte Püppi.

„Aber der Weg dahin wird dir nicht gefallen“, schnarrte der Clownwecker mit den großen Augen.

„Ist doch egal“, winkte Püppi ab, „Hauptsache, es wird alles wieder so wie früher.“

„Das wird sich zeigen“, schnarrte der Clownwecker.

Und das Buch brummte nur. Ob es ein frohes, oder ein trauriges Brummen war, lässt sich nicht sicher sagen.

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