Letzte Leseprobe aus „Vakuum“ vor Erscheinen des Buches!

Die letzte Leseprobe ist etwas länger, weil sie die 10 Tage bis zum Erscheinen des Buches „überbrücken“ muss. Am 10. September 2012 ist es endlich so weit – „Vakuum“ von Antje Wagner erscheint! Dann können wir die spannende Geschichte von Alissa, Leon, Samira und Göran von Anfang bis Ende lesen. Viel Spaß uns allen! Und ein großes Dankeschön an Antje Wagner!

Noch einmal ließ sie den Blick über die Wiese schweifen, über die drei Zelte: ihr eigenes Spitzdachzelt, silberfarben und schief, Leons tarngrünes Igluzelt und das blaue Doppelzelt von Samira und Göran. Der Tüpfelschatten der Bäume auf dem Gras.

Ihr Blick ging zum Waldrand, der die Wiese von allen Seiten einschloss, dann einmal ringsherum, den gesamten Waldrand ab. Etwas fehlte. Sie wusste nicht, was es war, aber es fehlte.

„Aliiiiissa!“ Sie fuhr herum.

*

 Leon kam aus dem Wald. Nicht von dort, wo er verschwunden war, um Holz zu sammeln, sondern von der Uferseite. Und er ging nicht, er rannte.

„Gott … sei … Dank“, keuchte er, als er vor ihr stand. „Du bist hier!“ Einen Moment lang sah er tatsächlich aus, als wollte er sie umarmen, und vorsichtshalber trat sie einen Schritt zurück. Er stützte die Hände auf die Oberschenkel und atmete.

„Wo soll ich denn sonst sein“, sagte sie kühl, ließ den Anhänger los und setzte sich auf die Decke zurück. „Was machst du überhaupt für einen Stress? Hast du Angst bekommen so allein im Wald, oder was?“

Leon sah sie an. Dann sagte er: „Sie … sie sind weg. Göran und Samira sind verschwunden!“

*

 „Mann, jetzt mach dir mal nicht ins Hemd“, sagte Alissa, als sie beide am Ufer standen. Da lagen die Töpfe und die Teller, und auf einem Stein sah sie die Bauchtasche von Samira. Das Ding war so affig. Es war ungefähr so groß wie eine Hand und hellblau. Samira schleppte es überallhin mit. Wer trug heute noch eine Bauchtasche?

Dann fiel ihr Blick auf das rote Tuch am Boden. Görans Tuch, das er ums Handgelenk trug. Dass er es zum Abwaschen abgenommen hatte, war verständlich. Aber die Teller waren noch genauso schmutzig wie nach dem Mittagessen. Sie sah noch einmal über alles. Geschirr, Bauchtasche, Tuch. Es war wie eine Szene im Film, in der alles stimmte, nur die Menschen, die diese Szene bewohnen sollten, fehlten.

Sie sagte: „Die hatten wohl keine Lust, abzuwaschen, haben sich lieber ’ne Lichtung gesucht … du weißt schon. Die Bienen und die Blumen.“

Leon sah sie an. Dann griff er in seine Hosentasche.

„Das hier war in der Bauchtasche“, sagte er.

Sie sah auf seine Handfläche. Dort lag eine daumengroße, schmale Metalldose. Sie wusste, was es war. Und sie wusste auch, dass Samira keinen Schritt ohne das Ding machen würde. Es war ihr Asthmaspray.

 *

 Alissa ging mit großen Schritten zurück zur Wiese und auf ihr Zelt zu. Sie kramte das Handy aus ihrem Rucksack. Wählte Samiras Nummer. Hielt es sich ans Ohr. Nichts.

„Offenbar im Funkloch“, sagte sie. „Oder sie hat es ausgestellt.“ Görans Nummer wusste sie nicht.

„Göran hat mein Handy“, sagte Leon. „Ich hab’s ihm gegeben, weil er gesehen hat, dass ich Block Breaker drauf hab. Er wollte eine Runde spielen.“

Alissa wählte Leon an.

Im selben Moment hörten sie ein Klingeln. Es kam vom Doppelzelt. Sie rannten hinüber, und Alissa zog den Reißverschluss auf. Das Zelt war leer.

Auf Görans Schlafsack lag Leons Handy. Shit.

„Also gut“, sagte Alissa. „Wir gehen jetzt den Rundweg noch mal ab. Du linksrum, ich rechtsrum. Wir treffen uns in der Mitte.“

 *

 Dass eine Landschaft sich so verändern konnte. Alissa lief den Rundweg entlang und rief: „Samiiiiiira! Göööööran!“ Noch vor wenigen Stunden war ihr die Insel vorgekommen wie ein Geschenk, offen, sonnig und nur für sie vier da.

Jetzt, als sie über die Äste und Stämme kletterte, die den Weg versperrten, und mit dem Blick das Unterholz scannte, hatte die Insel ihr Gesicht gewechselt. Sie war düster geworden, verschlossen, bösartig. „Samiiiiira!“ Sie hielt inne, lauschte, ob jemand antwortete.

Von weiter weg hörte sie Leon rufen: „Göööööran! Samiiiira?“ Dann war es wieder still. Anders still als sonst. Unnatürlich still.

Und da fiel es ihr endlich auf: Es gab keine Grillen.

Und dann, einen Herzschlag später, als sie anhielt und lauschte, folgte die zweite Erkenntnis: Es gab auch keine Vögel.

Wenn Vögel verstummten, bedeutete das nur eins: dass ein Unwetter kam. Sie hob sofort den Kopf und sah nach oben.

Der Himmel war klar und blau. Kein Wölkchen irgendwo.

 *

 „Ich versteh das einfach nicht“, sagte Leon, als sie wieder zusammen auf der Streuobstwiese standen. „Vielleicht soll das ein Joke sein?“ Aber er sah nicht aus, als würde er seine eigenen Worte glauben.

„Solche Jokes macht Samira nicht“, sagte Alissa. Und endlich fiel es ihr ein. „Sie sind nicht im Wald!“ Plötzlich ergab alles einen Sinn: das zurückgelassene Asthmaspray, die Handys. „Sie wollten vielleicht schwimmen. Ins Wasser nimmt man weder Asthmaspray noch Handy mit.“

Sie drehte sich um und rannte zum Wasser. Leon kam hinter ihr her. Sie hatte seinen Atem im Ohr, sein Keuchen, oder war es ihres?

Als sie am Strand stand und sich umsah, hatte Leon schon sein T-Shirt über den Kopf gezogen und streifte die Hose ab. Er wollte gerade ins Wasser hechten, als sie „Nein!“ rief.

Sie wies auf die Schlickschicht, die den Sand bedeckte.

Überall, wo jemand von ihnen gelaufen war, war die Schicht zerstört, und der Sand darunter kam zum Vorschein. Doch am Ufer war der Schlick unberührt. „Sie sind nicht ins Wasser gegangen“, sagte sie. „Es gibt keine Spuren. Außerdem müssten ihre Klamotten dann irgendwo hier liegen. – Lass uns nach den Mopeds schauen“, sagte sie. Vielleicht hatten die beiden eine dringende Nachricht bekommen und waren nach Hause gefahren? Was das jedoch für eine Nachricht gewesen sein könnte, war ihr ein Rätsel. Trotzdem war sie erleichtert. Es war immerhin eine Möglichkeit.

Die Erleichterung hielt an, bis sie in dem Gebüsch verschwunden war, wo sie die Fahrzeuge versteckt hatten. Sie hob die grüne Plane an.

Die Mopeds waren noch da.

Verdammt.

Vielleicht waren sie zu Fuß weg? Sie lief an Leon vorbei, zum Tor. Die Kette hing an ihrem Platz. Genauso verknotet wie heute Morgen. Das Schloss war zu. Versteckten die beiden sich irgendwo?

Alissa spürte, wie Wut heiß in ihr hochstieg, und dann schlug sie mit der Faust auf die Kette. Sie schlug mit voller Kraft. Wieder. Und wieder. Wo – sind – sie! Wo – sind – sie! Wo –

„Alissa, hör auf!“ Leon stand plötzlich hinter ihr und zog ihre Hand weg. Sie wirbelte herum und stieß ihn mit voller Wucht von sich. Er taumelte rückwärts.

„Tut mir leid“, stammelte er.

Sie drehte sich um und lief zurück zum Rundweg. „Wir müssen tiefer in den Wald rein“, sagte sie.

Was auch immer passiert war, die beiden waren noch auf der Insel.

 *

 Sie blieben nicht auf dem Rundweg, sondern brachen durchs Unterholz, um auch in dem unzugänglichen Waldbereich zu suchen. Alissa wusste nicht genau, wie lange sie gesucht hatten, aber anderthalb Stunden waren es sicher. Sie sahen furchtbar aus, alle beide, hatten Schürfwunden an Armen und Beinen, und sie waren heiser vom Schreien, als sie wieder am Ausgangspunkt gelandet waren.

Alissa zog ihr Handy heraus. Sie wählte 110.

Nach einer Weile senkte sie das Handy wieder und wählte erneut.

„Was ist los?“, fragte Leon nervös.

„Bei 110 nimmt keiner ab.“

 

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