Wir sind immer noch im 4. Kapitel von „Vakuum“

Diese Kamera hatte er von Nina zu Weihnachten bekommen. Leon hatte sich eine gewünscht, seit er sieben war, aber ihr Vater war der Meinung gewesen, dass man mindestens zwölf sein sollte, bevor man so ein wertvolles Gerät bekam. Nina war anderer Meinung gewesen und hatte ihm einfach eine gekauft. Seitdem waren Leon und seine Kamera wie verheiratet.

Nina, Nina – wieso dachte sie ständig an Nina! Sie bückte sich nach einem Stock, hob ihn auf und schlug leicht damit übers Gras, schlug den Pusteblumen die Schirmchen ab, dann die Köpfe.

Der Rundweg war fünf Kilometer lang. Bevor er in den Wald führte, schlängelte er sich am Ufer entlang. Dort lief es sich noch ganz gut. Nur manchmal versperrten Steine und Schwemmholz den Weg, und sie mussten ausweichen. Samira und Göran liefen Hand in Hand. Die beiden waren zusammen, seit vierzehn waren, jetzt vier Jahre. Sie wirkten aber nicht wie ein Vier-Jahre-Paar, sondern frisch verliebt. Sie ließen sich nicht mal los, wenn sie über einen Baumstamm klettern mussten. Leon fotografierte irgendwelche angeschwemmten Sachen am Strand.

Der Sand war nicht fein und hell, wie Alissa ihn aus dem letzten Jahr in Erinnerung hatte. Der Sand war einfach gar nicht mehr da. Er war begraben unter einer grünlichen Schlickschicht. Alissa ließ sich zurückfallen, Leon schloss zu Samira und Göran auf, und die drei verschwanden hinter den herabhängenden Zweigen einer Trauerweide. Sie folgten dem Pfad, der jetzt vom Ufer weg, Richtung Wald führte.

Alissa watete noch ein bisschen durch den Schlick. Zog eine Spur hinein. Riss ihn auf, wie ein Schiff das Wasser aufreißt. Schlick. Er bedeckte nicht nur den Ufersand, sondern auch die herabgefallenen Äste, die Steine am Rand, er schob sich die Stämme der Bäume empor, die dicht am Wasser standen. Kein Wunder, dass Leon das fotografierenswert fand. Es sah … bizarr aus. Wie eine grüne Krankheit, die an allem hochkroch. Als sie sich bückte und den Schlick mit den Fingern berührte, war er feucht, leicht schleimig. Aber das würde nicht so bleiben, wusste sie. Die Sonne holte bereits Atem. Sie stieg, und mit jeder Minute wurde sie wärmer und kräftiger. Sie saugte nicht nur den Tau von der Wiese, sondern würde nach und nach auch die Feuchtigkeit aus dieser Schlickschicht saugen. Bis der Strand, die Steine, die Äste und die Unterseite der Stämme nicht mehr schleimig-grün wären, sondern nur noch grün. Das Grün wäre trocken, staubig, und es würde sich langsam mit Rissen überziehen. Und irgendwann könnte man es mit einer Handbewegung abwischen. Es würde hochstauben und wäre – weg.

 

Dieser Beitrag wurde unter 2009, Neuigkeiten, Texte veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert