Die Anfrage des Goethe-Instituts Georgien flatterte überraschend und kurzfristig ins Postfach: Ob ich zum Tag des Buches für eine Lesung nach Tbilissi kommen könnte? Ein Blick in den Kalender und: Super! Ich komme! Dann noch ein Blick auf das Kleingedruckte der Einladung: eine Lesung für 6-12jährige Kinder mit Sprachkenntnissen auf dem Niveau von A1-A2. Oh je. Eine solche Altersspanne? Welches Buch kann das leisten? Und was ist nochmal A1-A2?
Moment … mein erstes Theaterstück! Ich hatte als Dramaturgin für den Spielplan der Landesbühnen Sachsen ein zweisprachiges Kinderstück gesucht, nicht gefunden und schließlich selbst geschrieben: „Lost and Found: Ein Herz und andere Dinge“.
August muss aufräumen. Das Chaos in seinen Einzelteilen vom Schraubenzieher bis Zahnbürste ist allerdings unmöglich zu bewältigen. Da schneit Judy herein, die nicht nur mit ihrem organisatorischen Furor nervt, sondern auch mit ihrer weitestgehend unverständlichen Sprache. Sie baut ein Fundbüro für die herumliegende Unordnung auf. Dabei kommt es zu tragischen Missverständnissen, im Verlaufe derer August sich in eine Prinzessin verwandelt und Judy ihr Herz verliert. Doch auch wenn im Fundbüro kein Herz abgegeben wurde, schafft es August die Katastrophe abzuwenden. Er legt Judy sein Herz zu Füßen! Und plötzlich spielt die fremde Sprache überhaupt keine Rolle mehr!
Der Text ist geschrieben für ein Publikum mit einer Sprache, die alle verstehen und einer Sprache, die entweder einige auch sprechen oder die alle lernen. August spricht die Sprache des Kinderpublikums, Judy die neue Sprache. Durch das Spiel mit den Gegenständen, durch Wiederholungen in beiden Sprachen und durch einfache Sätze, die August im Verlaufe des Spiels lernt, ist das clowneske Theaterstück für jedes Sprachniveau verständlich. Es wird sowohl in der deutsch-englischen Originalfassung inszeniert als auch an Theatern, die für sprachliche Minderheiten spielen, z.B. in Deutsch-Sorbisch, Ungarisch-Deutsch, Italienisch-Deutsch, Deutsch-Ladinisch. (Nebenbei: Es gibt eine deutsch-türkische Übersetzung. Aber bisher hat kein Theater Interesse entwickelt, ein Stück zu inszenieren, in dem Kinder spielerisch ein paar Wörter der zweitgrößten Sprache Deutschlands aufschnappen könnten.)
Glücklicherweise hat das Goethe-Institut die Überschrift „Tag des Buches“ nicht wörtlich genommen und hielt ein Theaterstück als literarischen Beitrag für genauso passend wie ein Buch. Die eine Hälfte des Stücks mit der August-Figur wurde ins Georgische übersetzt und es fand sich ein junger Schauspieler, der sich bereit erklärte mit mir zusammen nach nur einer Verständigungsprobe diese szenische Lesung zu präsentieren.
Tbilissi im Frühsommer blüht und wächst und grünt, die Sonne scheint, der Wein schmeckt und das Essen sowieso. Die Straßen abseits des großen Rustaveli-Boulevards sind eher Gassen, trotzdem quetschen sich überdimensionierte SUVs durch. Die Häuser zeigen sich in prächtiger Schönheit verfallen oder direkt daneben ebenso prächtig renoviert. Zwei Schritte hinter dem Parlamentsgebäude hängt die Wäsche von den Holzbalkonen in den Hinterhöfen, glühen die traditionellen Ton-Öfen der winzigen Bäckereien und öffnet hier der showroom eines neuen Modelabels, dort ein Club, eine Bar, eine Galerie, ein Theater. Tbilissi ist so lebendig und cool wie Berlin nach der Wende, wenn das Wetter damals besser und die Leute ein bisschen lockerer gewesen wären.
Zum „Tag des Buches“ ist das Goethe-Institut mit seiner freundlichen Bibliothek und seinem ruhigen Café im wunderschönen Innenhof voll von wuselnden Kindern, ihren Eltern und Lehrer*innen. An den meisten Schulen wird Englisch gelehrt. Die wenigen, die auch Deutsch anbieten, nutzen die Gelegenheit und besuchen das vielfältige und niedrigschwellige Programm an diesem Tag. Nach einer Aufführung der Theater AG einer Schule, nach Papierschöpfen, Bilderbuch-Vorlesen und Schnupperkurs Deutsch, bauen wir unser Fundbüro auf.
Ungefähr siebzig Kinder schauen zu, wie Nika Kiknadze als August sich mit dem Chaos rumärgert und ich als Judy für Ordnung sorge. Wenn August die einfachen deutschen Sätze von Judy nicht versteht, rufen ihm einige Fortgeschrittene voller Begeisterung die Übersetzung zu. Natürlich haben sie Spaß daran, dass Judy das deutsche Wort „nass“ ganz praktisch mit einem Schwall Wasser erklärt oder August sich unversehens in einen rosa Rock gekleidet als Prinzessin in einen Kampf verwickelt sieht. Das Hin- und Her mit einem Schraubenzieher hat zur Folge, dass irgendwann alle im Saal sich trauen, dieses absurde deutsche Wort auch einmal in den Mund zu nehmen.
Nach der Auflösung aller Verwicklungen durch ein zu Füßen gelegtes Herz, ermuntern wir die Kinder, selbst Fundbüro zu spielen und mit den neuen Wörtern nach dem Schwert oder dem Schneebesen zu fragen. Zu ihrer eigenen Verwunderung entdecken die Kinder, dass Deutsch überhaupt nicht schwer, stattdessen aber ziemlich lustig ist: Guten Tag. Hier ist das Fundbüro. Suchen Sie einen …. Schraubenzieher – Schraubenzieher?!?! Und schon ist das Gelächter nicht mehr zu stoppen …
Eine zweite Lesung hatten wir in der neuen Universitätsbibliothek von Kutaissi, die eine Außenstelle des Goethe Instituts beherbergt. Die Fahrt dauert etwa drei Stunden, geht zum Teil durch die Berge und das ist erwähnenswert, weil es auf georgischen Straßen zwar durchgestrichene Linien, Geschwindigkeitsbegrenzungen und Warnhinweise gibt, aber keine Autofahrer, die das in irgendeiner Weise auf sich beziehen. Egal, wir sind angekommen! Insgesamt etwa dreißig Kinder, Jugendliche, Lehrerinnen und Germanistik Studierende amüsierten sich auch hier mit August und Judy, georgisch und deutsch über Chaos, Ordnung und Liebe.
Und wenn die georgischen Kinder jetzt so schöne Wörter wie Schraubenzieher oder Ich-habe-mein-Herz-verloren kennen, was habe ich gelernt? Ganz einfach: Dalageba? Ara, ara …
Rike Reiniger, Juni 2019