Und weiter geht es – Wir sind immer noch im 4. Kapitel von „Vakuum“

Leon hatte die beneidenswerte Fähigkeit, sich hinzulegen, sofort einzuschlafen und nach zehn Minuten wieder aufzuwachen. Ausgeruht und hellwach wie ein junger Hund. Sie konnte das nicht.

Wenn sie sich mittags mal hinlegte, schlief sie meist gar nicht erst ein, aber wenn es ihr doch gelang, dann war es so, als hätte jemand sie niedergeschlagen. Sie schlief dann stundenlang und kam nur mühsam wieder an die Oberfläche zurück. Mehr eine Bewusstlosigkeit als gesunder Schlaf.

Wo waren die anderen überhaupt? Abwaschen dauerte schließlich keine zwei Stunden. Holz sammeln eigentlich auch nicht. Vielleicht sonnten sie sich am Strand? Badeten?

Die Blätter im Apfelbaum über ihr raschelten. Sonnenflecken spielten auf dem Gras. In der Luft lag ein leichter Geruch nach Heu und etwas Sumpfigem. Guter Geruch, dachte sie, Sommergeruch. Endlich. Trotzdem schlug das Herz eigenartig hart in ihrer Brust. Sie setzte sich auf. Sah wieder hin und her. Ihre Hand tastete nach der Kette um ihren Hals, tastete über ihr Shirt, unter dem der Anhänger verborgen war. Sie drückte auf den kleinen Huckel, und das scharfkantige Metall bohrte sich einmal kurz in ihre Haut. Der Schmerz war gut. Sie wurde ruhiger.

Es ist nichts, dachte sie. Gar nichts. Sie musste damit aufhören, bei jeder Kleinigkeit gleich an das Schlimmste zu denken!

Aber sie waren hier allein auf einer menschenleeren Insel.

„Samira?“, rief sie. Keine Antwort. Nur das Wispeln des Windes über dem Gras. Nur die reglose Helligkeit. Sie rief noch einmal. Lauter diesmal. „Samira? Göran? Leon?“

 *

 Sie stand auf und kam sich plötzlich merkwürdig exponiert vor, so hoch aufgereckt auf der Wiese. Ein weithin sichtbares Ziel. Von Wald umzingelt.

Sichtbares Ziel. Umzingelt. Was denke ich für einen Scheiß, dachte sie und setzte sich in Bewegung. Sie schwankte, und vor ihren Augen wurde für einen Moment alles schwarz. Sie blieb stehen und atmete durch. Ihr Körper strahlte Hitze ab, als hätte sie eine kleine Sonne verschluckt. Verdammt, warum hatten die anderen sie bloß so lange in der prallen Hitze schlafen lassen! Sie wischte sich über die Stirn, auf der sich kleine Schweißtröpfchen gebildet hatten.

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Noch ein Countdown!

In genau vier Wochen endet die Bewerbungsfrist für die vierte „Feuergriffel“-Ausschreibung. Alle Kinder- und Jugendbuch-Autorinnen und -Autoren, die eine tolle Ideen haben, sind herzlich eingeladen sich zu bewerben.

Informationen auch unter: www.mannheim.de/feuergriffel

 

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Gespannt wie es weitergeht?! – Dann hilft nur eine neue Leseprobe aus „Vakuum“

Die Grillen zirpten. Angeblich machten sie das nicht mit ihren Mundwerkzeugen, sondern mit den Beinen. Sie rieben sie aneinander, bis dieser Zirpton entstand. Damit lockten sie ein Weibchen an. Merkwürdige Methode, dachte Alissa.

„Ich mach dann mal Spaghetti“, sagte sie und stand auf. „Ihr könnt ja noch hierbleiben. Dauert bestimmt ’ne Weile, bis die auf dem Kocher gar sind.“

„Ich helfe dir.“ Leon.

Warum lässt er mich nicht in Ruhe.

 *

 Alissas Kopf zuckte hoch. Was war das? Etwas hatte sie geweckt.

Die Wiese, die Zelte. Der Wald dahinter, friedlich im Nachmittagslicht. Alles sah genauso aus wie vorhin, als sie sich für einen Mittagsschlaf hingelegt hatte, als Göran und Samira zum Abwaschen an den Fluss gegangen waren und sie Leon zum Holzsammeln in den Wald geschickt hatte. Als sie selbst die Decke auf der Wiese ausgebreitet und sich in die Sonne gelegt hatte. Schließlich war sie es, die für alle gekocht hatte. Da hatte sie sich eine Pause verdient.

Wie lange war das her? Zehn Minuten? Eine halbe Stunde?

Sie schaute auf ihre Armbanduhr und stöhnte ärgerlich auf. Die Uhr war stehengeblieben. Murphys Gesetz, dachte sie. Kaum war man mitten in der Walachei und kein Laden in Sicht, beschlossen die Batterien, die sonst nie rumzickten, dass genau jetzt der Zeitpunkt gekommen war, den Geist aufzugeben. Und ihr Handy lag im Zelt,  dreißig Meter entfernt. Die Uhr zeigte kurz nach drei. Kurz vorher war sie eingeschlafen.

Sie streckte sich und versuchte, die Taubheit aus ihrem Kopf zu atmen. In der prallen Sonne einzuschlafen, war gefährlich. Aber es war so verführerisch gewesen. Vor allem, weil sie dieses Jahr noch gar keine Sonne gehabt hatte. Sie hatte etwas geträumt. Was war das gewesen? Die Algen kamen ihr plötzlich in den Kopf. Die Algen, die am Strand in den Baumkronen gehangen hatten. Sie hatte im Traum gewusst, wie sie da hingekommen waren. Jetzt war natürlich wieder alles weg.

So verpennt wie sie sich fühlte, hatte sie mindestens zwei Stunden geschlafen. Sie hasste das. Warum hatten die anderen sie nicht geweckt?

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Der Countdown läuft – „Vakuum“ steht vor der Tür

Auf dem Wasser schwammen Wasserlinsen wie dünne, grüne Tücher. Wo keine Linsen waren, war das Wasser dunkel und still. Man konnte nicht auf den Grund sehen. Eine Libelle mit blaugeäderten durchsichtigen Flügeln blieb wenige Zentimeter vor Alissas Gesicht reglos in der Luft stehen.

Alissa atmete nicht. Dann flog die Libelle weiter, und sie holte wieder Luft und stellte sich vor, jemand anderes zu sein, nicht mehr sie. Der Gedanke machte sie so leicht. Leicht wie Glück. Plötzlich kreischte es über ihnen, ein Möwenschrei, und der Schatten eines Mädchengesichts strich über den Sand, fiel ins Wasser und ging nicht unter. Alissas Lächeln erstarb.

Mücken summten in Wolken um sie herum, stachen aber nicht. Nur die Weibchen stachen. Sie brauchten ein bestimmtes Enzym aus dem Blut für ihre Eier, hatte Alissa einmal gelesen. Seit sie das wusste, fiel es ihr schwer, eine Mücke einfach zu erschlagen. Sie stach schließlich nicht aus Blutgier, sondern weil sie schwanger war.

Im Gebüsch tschilpte ein Zilpzalp. Sie sah ihn nicht, doch sein Gesang war alles andere als unscheinbar. Eigentlich war es kein richtiger Gesang, sondern ein einziger langgezogener, schriller Ton, den der Vogel in kurzen Abständen unterbrach, um dann wieder anzusetzen. Die Vögel in der Stadt waren viel leiser. Als würden sie nicht auffallen wollen. Dabei stimmte das gar nicht, wusste sie. Sie waren genauso laut, nur wurden sie überdeckt von anderen Geräuschen, Stadtgeräuschen.

Es waren nur fünf Minuten mit dem Moped von hier bis zum Menschengewühle. Nur fünf lausige Minuten! Und hier auf der Insel war nichts davon zu hören. Hier schrien die Zilpzalps so laut, dass man sie auch als Alarmanlage einsetzen könnte, und in den winzigen Pausen, die sie brauchten, um Luft zu holen, hörte man das leise Gluckern im Wasser, wenn ein Karpfen von ganz unten an die Oberfläche kam und mit einer schnellen Wendung wieder abtauchte.

„Hier sollten wir heute Abend sitzen!“, sagte Samira. „Der Platz ist einfach perfekt. Wir können zusehen, wie die Sonne untergeht. – Hat jemand Musik dabei?“

„Ich hab meine Mundharmonika mit“, sagte Göran.

„Ich meinte Musik, Süßer, nicht Ruhestörung“, sagte Samira, kniff Göran in den Hintern und lachte.

„Vielleicht können wir ja ein Lagerfeuer machen, ganz ohne Musik“, schlug Alissa vor.

„Ich sammle schon mal Holz!“, rief Leon sofort.

„Ich hab jetzt tierischen Knast“, sagte Göran zu Samira. „Kochst du was Leckeres?“

„Iss Äpfel“, sagte Samira nur, streckte sich auf dem weißgespülten Stamm aus, und das T-Shirt rutschte dabei ein Stück hoch und gab ein paar dunkelbraune Zentimeter Haut und ihren Bauchnabel frei. „Die ganze Wiese liegt voll davon.“

„Ihr seid so grausam, meine Königin“, sagte Göran und beugte sich vor, um Samiras Bauchnabel zu küssen.

Samira stieß ihn weg. „Keine Unzucht vor dem Kinde, Mylord“, sagte sie.

„Meint ihr mich? Ihr meint doch nicht mich, oder?“, fragte Leon empört. Er schob seinen Hut höher. „Ich bin zwölf, keine fünf. Das mit den Bienen und den Blumen hab ich schon mal gehört.“

„Na dann“, sagte Göran und beugte sich wieder über Samiras Bauch, die laut losprustete.

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Nur noch 16 Tage bis „Vakuum“ erscheint! – Bis dahin gibt es noch eine weitere Kostprobe

Die drei waren ein ganzes Stück voraus. Nach zwei Biegungen sah sie wenigstens schon Leons bescheuerten Hut zwischen wolkigem Gestrüpp und hellgrünen Farnen auftauchen, rot wie eine Leuchtboje.

Als sie noch näher herankam, sah sie, wie Leon die beiden fotografierte. Samira und Göran posierten, wobei Göran seine Freundin hielt, als würde sie beim Tanzen nach hinten kippen. Samira hatte ein Bein in die Luft gereckt und ihre Hand wies mit elegant gestreckten Fingern auf den Boden. Dann lachten alle drei und gingen weiter. Alissa beschleunigte. Dort, wo Leon lief, sollte sie sein! Er hatte ihren Platz eingenommen. Dass das nicht ganz stimmte, weil sie freiwillig am Strand zurückgeblieben war, war ihr egal. Sie riss sich von den Ranken los, die sich in ihrer Jacke festgehakt hatten, und rupfte im Gehen ein paar Kletten vom Ärmel. Der Pfad war nicht nur von allen Seiten zugewachsen und glich eher einer grünen Röhre als einem Weg – diese Röhre lebte auch noch! Überall kroch, flatterte oder wischte etwas über den Weg, flüchtete ins Unterholz oder brach daraus hervor. Endlich erreichte sie die anderen.

„He!“, rief sie. „Wartet mal!“

Die drei drehten sich um.

„Mann, du siehst aus, als hättest du ’n Geist gesehen!“, sagte Samira.

„Nur einen Schwan“, sagte Alissa, schob sich an Samiras Seite und drängte Leon weg.

*

Am Ende des Rundwegs landeten sie wieder beim Ufer. Alissa reckte rechtzeitig den Hals und versuchte das Ufer zu überblicken. Sie hatte keine Lust, doch noch von dem Schwan zu Hackfleisch gemacht zu werden.

„Wartet!“, sagte Göran, der Alissa beobachtet hatte, und ging vor, bewaffnet mit einem starken Ast.

„Herzliche Grüße nach Neandertal!“, rief Samira ihm nach.

„Entwarnung!“, rief er ihnen nach einer Weile vom Strand her zu.

Alissa hatte den Schwan längst entdeckt: weit draußen im Wasser, wo er aufrecht und schön dahintrieb wie eine in Tiergestalt verwandelte Wolke. Aber sie wusste, dass die Wolke sich von einer Sekunde auf die andere in einen giftschäumenden Albtraum verwandeln konnte.

Sie setzten sich auf die blankgewaschenen Stämme zweier umgestürzter Bäume.

„Wie kommen die Algen an die Äste da?“, fragte Alissa nach einer Weile. Sie wies auf die Bäume am Ufer. Die Algen wehten an den Ästen wie braunes Lametta.

„Von so Naturzeugs hab ich keine Ahnung“, sagte Göran. „Ich hab Bio abgewählt.“

„Vielleicht tragen die Vögel sie dahin?“, schlug Samira vor.

„Ja, klar“, sagte Göran. „Von ihrem Winterquartier aus Afrika.“ Er stieß Samira spielerisch in die Seite und feixte.

Leon und Alissa sahen sich an und schwiegen.

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Vor dem Wochenende geht es spannend weiter im 4. Kapitel von „Vakuum“

All dies dachte sie in der einen Sekunde, in der die Schreckstarre sie festhielt, ein Prasselregen an Gedanken, Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen, und dann durchbrach ein biologisches Überlebenssignal den Moment, und Alissa drehte sich um und stürzte davon.

Sie rannte vom Strand fort auf die Wiese, doch der Schwan mit Ninas Gesicht folgte ihr, und er war schnell. Verdammt schnell. Sie hörte ihn ganz nah hinter sich fauchen und mobilisierte ihre Kräfte. Weil sie nicht wusste, wie dicht er schon hinter ihr war, drehte sie sich um und verlor auf diese Weise wieder an Vorsprung. Sie fluchte. Aber sie machte dadurch auch die Entdeckung, dass er zwar auf freier Strecke schnell laufen konnte, mit Ästen und anderen Hindernissen im Weg jedoch Schwierigkeiten hatte. Und so machte sie endlich einen Bogen und rannte Richtung Wald.

Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft war sie froh über die vom Sturm umgerissenen Bäume und über das Gestrüpp, das den Pfad überdeckte Sie sprang über die Hürden, flüchtete tiefer und tiefer in den Bannwald hinein, bemerkte, dass die Vegetation sich immer dichter um sie schloss, dass es mit jedem Schritt dämmriger um sie her wurde, weil die Baumkronen den Himmel verdeckten, und merkte aber auch, dass der Abstand zwischen ihr und dem Killerschwan sich vergrößerte. Als sie schon fünfzig Meter in den Wald hineingelaufen war, drehte sie sich endlich um und sah zurück. Der Schwan stand am Waldrand vor einem umgestürzten Baum und sah ihr hinterher. Er hatte aufgegeben. Sie hatte Nina abgehängt. Vorerst.

Alissa atmete auf. Sie lief jetzt etwas langsamer. Versuchte, sich zu orientieren, lauschte. Nach einer Weile hörte sie das hicksende Lachen von Samira weit vor sich. Gut. Wenigstens hatte sie nicht aus Panik den falschen Weg eingeschlagen.

Sie betrachtete die Bäume ringsumher. Dachte: Ulmen. Sie wusste nicht, wie Ulmen aussahen, was sie unbedingt ändern würde, wenn sie zurück waren, aber der Name hatte einen so eigentümlichen, düsteren, uralten Klang, dass die Bäume links und rechts einfach Ulmen sein mussten.

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Für alle neugierigen Fans von Antje Wagner gibt es auch heute wieder eine Leseprobe aus „Vakuum“

Ob Erinnerungen auch so funktionierten? Waren sie erst feucht und lebendig, um dann, eines Tages, auszutrocknen, sodass man sie einfach wegwischen konnte? Nina einfach wegwischen? Ihre Hand zuckte an ihren Hals, zu ihrer Kette, berührte sie kurz. Vergewisserte sich, dass der Anhänger unter ihrem T-Shirt verborgen war.

 *

 Sie hörte Samira lachen. Die anderen waren schon weit vorgelaufen. Nur noch einen Moment, dachte sie. Den Strand anschauen. All das Angeschwemmte. Das Schlickgrün. Atmen.

In den Ästen eines Baums am Ufer hingen Algen, braun und tot. Wieso hingen da Algen? Algen gehörten ins Wasser. Sie flogen nicht durch die Luft, um in Bäumen hängenzubleiben! Alissa ging einen Schritt auf den Baum zu, dann noch einen, sie wollte sich das ansehen, da hörte sie auf einmal ein komisches Geräusch hinter dem Stamm, eine Art Zischen. Als würde jemand Luft aus einem Reifen lassen.

Und dann ging alles ganz schnell. Sie hörte ein Platschen und Klatschen, dann stürzte ein Monster hervor.

Ein gigantischer Schwan!

Im ersten Moment tat sie gar nichts. Sie stand da wie schockgefroren und starrte ihm entgegen. In Schreckmomenten scheint die Zeit sich zu dehnen. Sekunden fühlen sich wie Minuten oder gar Stunden an. Der Moment zwischen dem Aufstören des Schwans und ihrer Flucht war sicher nur eine Sekunde lang, aber was sie in dieser Sekunde alles fühlte, dachte und wahrnahm, passte normalerweise nur in mehrere Minuten: dass der Schwan, der doch im Wasser eins der elegantesten und schönsten Tiere war, sagenhaft hässliche, schwarze Füße hatte. Füße, auf denen er entsetzlich plump herangerannt kam. Dass sein Hals irgendwie aufgepumpt wirkte. Dass er den Kopf nach vorn gestreckt hatte und ihn immer wieder hervorzucken ließ wie einen Dolch. Dass sich in dem aufgerissenen Schnabel eine richtige Zunge bewegte. Und dass er fauchte! Dass sie irgendwo einmal gelesen hatte, dass diese im Wasser sanftmütig wirkenden Tiere äußerst gefährlich werden konnten, wenn man ihren Zorn geweckt hatte. Und dieser Schwan hier war zornig. Er musste am Strand hinter dem Baum gedöst haben, bevor sie ihn versehentlich aufgeschreckt hatte. Zornige Schwäne, auch das hatte sie gelesen, konnten einem Menschen mit Leichtigkeit einen Arm brechen. Und dann verschob sich etwas in ihrem Hirn. Der Schwan und ein Mädchengesicht, an das sie nicht mehr denken wollte, gingen ineinander über, wurden eins, und plötzlich war es kein Schwan mehr, der sie auf sie zustürzte, sondern Nina!

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Wir sind immer noch im 4. Kapitel von „Vakuum“

Diese Kamera hatte er von Nina zu Weihnachten bekommen. Leon hatte sich eine gewünscht, seit er sieben war, aber ihr Vater war der Meinung gewesen, dass man mindestens zwölf sein sollte, bevor man so ein wertvolles Gerät bekam. Nina war anderer Meinung gewesen und hatte ihm einfach eine gekauft. Seitdem waren Leon und seine Kamera wie verheiratet.

Nina, Nina – wieso dachte sie ständig an Nina! Sie bückte sich nach einem Stock, hob ihn auf und schlug leicht damit übers Gras, schlug den Pusteblumen die Schirmchen ab, dann die Köpfe.

Der Rundweg war fünf Kilometer lang. Bevor er in den Wald führte, schlängelte er sich am Ufer entlang. Dort lief es sich noch ganz gut. Nur manchmal versperrten Steine und Schwemmholz den Weg, und sie mussten ausweichen. Samira und Göran liefen Hand in Hand. Die beiden waren zusammen, seit vierzehn waren, jetzt vier Jahre. Sie wirkten aber nicht wie ein Vier-Jahre-Paar, sondern frisch verliebt. Sie ließen sich nicht mal los, wenn sie über einen Baumstamm klettern mussten. Leon fotografierte irgendwelche angeschwemmten Sachen am Strand.

Der Sand war nicht fein und hell, wie Alissa ihn aus dem letzten Jahr in Erinnerung hatte. Der Sand war einfach gar nicht mehr da. Er war begraben unter einer grünlichen Schlickschicht. Alissa ließ sich zurückfallen, Leon schloss zu Samira und Göran auf, und die drei verschwanden hinter den herabhängenden Zweigen einer Trauerweide. Sie folgten dem Pfad, der jetzt vom Ufer weg, Richtung Wald führte.

Alissa watete noch ein bisschen durch den Schlick. Zog eine Spur hinein. Riss ihn auf, wie ein Schiff das Wasser aufreißt. Schlick. Er bedeckte nicht nur den Ufersand, sondern auch die herabgefallenen Äste, die Steine am Rand, er schob sich die Stämme der Bäume empor, die dicht am Wasser standen. Kein Wunder, dass Leon das fotografierenswert fand. Es sah … bizarr aus. Wie eine grüne Krankheit, die an allem hochkroch. Als sie sich bückte und den Schlick mit den Fingern berührte, war er feucht, leicht schleimig. Aber das würde nicht so bleiben, wusste sie. Die Sonne holte bereits Atem. Sie stieg, und mit jeder Minute wurde sie wärmer und kräftiger. Sie saugte nicht nur den Tau von der Wiese, sondern würde nach und nach auch die Feuchtigkeit aus dieser Schlickschicht saugen. Bis der Strand, die Steine, die Äste und die Unterseite der Stämme nicht mehr schleimig-grün wären, sondern nur noch grün. Das Grün wäre trocken, staubig, und es würde sich langsam mit Rissen überziehen. Und irgendwann könnte man es mit einer Handbewegung abwischen. Es würde hochstauben und wäre – weg.

 

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Und weiter geht es aus der Sicht von Alissa

„Hier“, sagte sie. Sie befanden sich auf einer Lichtung zwischen lauter Apfelbäumen. „Hier ist es perfekt!“ Sie stellte ihr Gepäck ab.

„Wenn du willst, bau ich dein Zelt mit auf, Alissa“, sagte Leon sofort.

„Lass mich einfach in Ruhe, ja?“

„Okay, ihr baut die Zelte auf – ich koche einen Kaffee“, sagte Samira.

„Und danach erkunden wir die Insel“, sagte Göran.

„Gibt’s zufällig auch Tee?“, fragte Leon und suchte den Boden nach Steinen ab, bevor er sein Igluzelt ausrollte.

„Klar“, rief Samira ihm zu. „Pflück dir was.“

„Davon hab ich keine Ahnung“, sagte Leon. „Da kennt sich nur Alissa aus.“ Er schaute zu ihr rüber.

Alissa sah auf die Wiese. Ein einziger schneller Blick verriet ihr, dass hier Schafgarbe, Kamille und Johanniskraut wuchsen. Alles Kräuter, aus denen sich Tee machen ließ. Aber sie sagte nichts.

„Ich nehme dann auch Kaffee“, sagte Leon. „Sag mal, Samira, wie groß sind eigentlich die Kaffeetassen bei euch zu Hause?“

 *

 Nach dem Morgenkaffee zogen sie los.

Sie wollten den Rundweg suchen. Nach einer Weile fanden sie ihn auch. Oder das, was sie dafür hielten, denn ein Weg war das eigentlich nicht. Zum ersten Mal sah Alissa die Redewendung Über alles wächst Gras  mit anderen Augen.

„Ich hätte bessere Schuhe mitnehmen sollen“, sagte Samira, als sie den mit Brombeerranken überdeckten Pfad betraten. „Da reißt man sich ja Löcher in die Socken! – Wenigstens du hast das Richtige mitgenommen“, sagte sie zu Leon.

Der verglich seine Turnschuhe mit Görans festen Wanderstiefeln. „Doch nicht die Schuhe“, sagte Samira. „Der Hut! Damit kannst du im Wald nicht verloren gehen.“

„Rotkäppchen wäre echt neidisch!“, feixte Göran.

Alissa sah, wie Leon rot wurde und seinen Hut noch tiefer ins Gesicht zog. Er trug die Kamera um den Hals und fummelte daran herum. Aus irgendeinem Grund nervte Alissa gerade alles, was er machte. Das Ziehen am Hut, das Gefummel an der Kamera.

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Hier kommt die Montags-Leseprobe

Wir sind immer noch im 4. Kapitel von „Vakuum“!

In den Frühjahrsmonaten, wenn das Tor der Reißinsel wegen der brütenden Vögel tatsächlich versperrt war, holte sich die Natur alles zurück. Efeu überwucherte dann den von Menschenfüßen getrampelten Rundweg, Gräser wuchsen die Holzbänke empor. Moos kroch über die Sitzflächen und Lehnen. Die Papierkörbe verschwanden in einem schwankenden Wald aus Disteln. Im Unterholz nisteten Vögel, und im flachen Wasser am Ufer laichten Frösche. Der Wind riss Äste von den Bäumen, fegte sie übers Land und tilgte alle von Menschenhand gemachte Ordnung. Die viermonatige Auszeit – das wusste Alissa, weil sie im letzten Jahr gleich am ersten Tag nach der Öffnung hier gewesen war – machte die Insel wild und störrisch und wunderschön.

Wenn im Juli das Tor wieder geöffnet wurde, veränderte sich alles. Die Mannheimer joggten den Rundweg entlang, sie saßen mit ihren Picknickkörben auf den Bänken, sie schoben das Gestrüpp aus dem Weg. Doch in diesem Jahr war alles anders. Das Grünzeug stand noch immer kniehoch, von einem Trampelpfad war nichts zu sehen.

„Ich hab das Gefühl, hier war überhaupt noch niemand“, sagte Alissa nach einem langen, sorgfältigen Blick über die Landschaft. „Obwohl die Vogelschutzzeit längst vorbei ist.“

„Logisch, dass hier keiner war. Hättest du Lust, auf einer klatschnassen Wiese zu picknicken?“, fragte Samira. „Bloß gut, dass wir das Tor abgesperrt haben. Heute ist der erste schöne Tag seit … äh … Monaten? Wenn es offen wäre, wäre hier in drei Stunden die Hölle los!“

Als sie durch das hohe Gras der Streuobstwiese staksten, fühlte sich Alissa wie an einem noch unentdeckten, fremden Ort. Mannheim schien plötzlich ganz weit weg. Die Stadt, das merkte sie jetzt, war in dem Moment von ihr abgefallen, als sie die Insel betreten hatte. Ein Geräusch zog ihren Blick nach oben. Ein Dreieck aus Zugvögeln kreuzte den Himmel. Ihre kurzen Orientierungsschreie durchschnitten die Luft. Sie wusste, dass sie das Ende des Sommers ankündigten. Das Ende eines Sommers, der noch nicht einmal begonnen hatte …

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